Wie verändern neue Technologien die Pflege? Welches sind die vielversprechendsten Strategien zur Bekämpfung des Fachkräftemangels? Was sind die Lehren aus der Corona-Pandemie? Dies waren einige der Fragen einer länderübergreifenden Fachtagung, zu der die Internationale Bodensee-Konferenz (IBK) und die Stiftung Liebenau geladen hatten. Rund 120 Fachleute aus Praxis und Forschung – jeweils zur Hälfte vor Ort in Liebenau und virtuell zugeschaltet – diskutierten gemeinsam Lösungsansätze für die „Zukunft der Pflege 2035" in der Vierländerregion.
„Diese Veranstaltung steht als Garant dafür, dass den wichtigen Zukunftsthemen trotz der aktuellen Pandemie im Sinne des IBK-Gedankens grenzüberschreitend Rechnung getragen wird", betonte Dr. Christian Bernhard, Vorsitzender Kommission Gesundheit und Soziales der IBK in seinem Grußwort zur Tagung, zu der sich Branchenprofis aus allen Anrainerstaaten der IBK angemeldet hatten. Auch Dr. Berthold Broll, Vorstand Stiftung Liebenau, hob die Bedeutung des Netzwerkgedankens hervor: „Digitalisierung und Technisierung, Ausbildungs- und Kompetenzprofile, Multiprofessionalität, innovative Wohn- und Betreuungsformen: Der länderübergreifende Austausch über Erfahrungen und Ideen hierüber ist wichtig", so Broll für die Stiftung, die in Ländern und Kantonen rund um den Bodensee aktiv ist.
Die erste alte Gesellschaft der Menschheitsgeschichte
Zukunftsforscher Georges T. Roos stellte eingangs die Megatrends vor, die den Gesundheitssektor in den kommenden Jahren prägen werden. „Die Gesellschaft wird alt sein – ein absolutes Novum in der Geschichte der Menschheit", so Roos mit Blick auf eine Welt, in der jedes vierte heute geborene Mädchen und jeder fünfte Junge eine Lebenserwartung von mindestens 100 Jahren hat und dadurch Krebserkrankungen oder Demenz eine größere Chance erhielten. Verstärkt würde der demografische Wandel in Europa durch einen Bevölkerungsrückgang, dem sich in IBK-Bereich Österreich und die Schweiz aber vermutlich entziehen würden. Zudem würden der weitere Wandel der Gesundheitskultur und die Individualisierung immer mehr dazu führen, dass aus dem Patienten von heute der Kunde von morgen werde. „Ein Riesenpotenzial" bescheinigte Roos dabei der Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Robotik, plädierte gleichzeitig aber für eine maßvollen Einsatz. „Menschen können auch künftig Vieles besser."
Digitale Technik – auch für Menschen mit Demenz
Einen ebenso differenzierten Blick auf technisierte Lebens- und Pflegewelten warf Prof. Dr. Thomas Beer von der Ostschweizer Fachhochschule (OST), der vor einer „digitalen Spaltung" der Gesellschaft in Alt und Jung warnte, zumal da digitale Kompetenzen – sei es bei Bankgeschäften oder im Supermarkt – künftig für die Bewältigung des Alltags selbstverständlich notwendig seien. „Wir müssen in der Pflege zwei Welten managen", sagte Beer, der sich für eine Integration des digitalen Kompetenzerwerbs in der grundständigen Pflegeausbildung aussprach. Dies gelte erst recht, da zum Beispiel Menschen mit Demenz aktuellen Forschungen zu Folge sehr aufgeschlossen und kompetent mit Technik umgehen. Sinnvoll seien hierbei all die Technologien, die von tatsächlichen individuellen Bedürfnissen ausgehen und Interaktionsmöglichkeiten eröffnen.
Kompetenzen in den Pflegeteams besser nutzen
Das Tagungsmotto „Was bereits heute für morgen getan werden kann" gilt nicht zuletzt für den massiven Personalmangel, der sich künftig noch weiter verschärfen könnte, wie Anke Lehmann vom Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen am Beispiel der Schweiz ausführte. „Allein durch Rekrutierungsmaßnahmen sowie die Aus- und Weiterbildung wird dieser Mangel nicht zu beheben sein", konstatierte Lehmann. Genauso wichtig, allerdings auch komplex seien Strategien für den Personalerhalt und den effektivieren Personaleinsatz. Die individuelle Pflegebedürftigkeit und die Anforderungen in den Institutionen vor Ort seien dabei wichtiger als die starre Erfüllung von Quoten. Dementsprechend muss der Blick auf die Kompetenzen in den Teams gelenkt werden: Wer kann und soll welche Aufgaben übernehmen? Und wie lassen sich Pflegekräfte befähigen und überzeugen, anspruchsvolle Managementtätigkeiten zu übernehmen? Dass diese Fragen längst noch nicht gelöst sind, zeigte auch die Diskussion mit Vertreterinnen und Vertretern aus Heimen und Pflegedienstleistungen.
„Ein Schatz, den man nicht heben muss"
Ursprünglich hatte die Fachtagung schon im Frühjahr 2020 stattfinden sollen, musste pandemiebedingt aber verschoben werden. Dafür bot sich nun Gelegenheit, einen ersten Blick auf Erkenntnisse eines Forschungsprojekts zu werfen, in dem Dr. Steffen Heinrich und ein Team der OST wissen wollten, wie pflegebedürftige Menschen mit Demenz sowie formelle und informelle Pflegekräfte diese Zeit erlebten und welche Handlungs- und Bewältigungsstrategien sie einsetzten.
„Gerade anfangs gab es eine große Verunsicherung, auch aufgrund häufig wechselnder Verordnungen, ohne die Möglichkeit zu haben, neue Routinen aufzubauen", berichtete Heinrich. Auch Angst, Wut und Hilflosigkeit seien zu konstatieren gewesen, hätten im Zeitverlauf aber deutlich abgenommen. Zudem, betonte Heinrich, sei das individuelle Empfinden durchaus sehr unterschiedlich – auch bei den Menschen mit Demenz. So reagierten manche von ihnen mit Rückzug und Unverständnis auf die Maßnahmen, andere hingehen hätten sich in Zeiten der Besuchseinschränkungen und Isolationen ausgeglichener gezeigt und wären dank eines vertrauten Umfelds vielleicht sogar weniger betroffen gewesen. Aus den Forschungsergebnissen will das Forschungsteam nun Reflexionshilfen für politische Akteure ableiten – ein Beispiel für den praktischen Nutzen des grenzüberschreitenden Wissensaustauschs, den Christian Bernhard abschließend so würdigte: „Die IBK ist ein Schatz, den man nicht heben muss. Denn er ist da."
Bild: Quelle IBK
Auf dem Podium: Georges T. Roos (links), Zukunftsforscher und Ulrich Dobler, Moderator, Stiftung Liebenau.